Herr G. war arbeitslos, seit über einem Jahr schon. Als leicht übergewichtiger Mann Ende 40 sah er realistischerweise auch keine Chance, wieder Arbeit zu finden - er hatte es lange genug versucht. Sogar bei den großen Fastfoodketten hatte er sich beworben, aber sie wollten ihn nicht. Zu alt, zu fett, was auch immer.
Herr G. hatte nichts mehr zu verlieren. Gar nichts. Seit er nur noch Arbeitslosengeld 2 bekam und er in eine neue, kleine Wohnung umgezogen war, war er völlig abgebrannt. Sein altes Auto hatte vor einigen Monaten den Geist aufgegeben.
Gut, er konnte sehr gut mit seinem Geld umgehen und musste folglich nicht verhungern, wie manche anderen Zeitgenossen. Aber Hoffnung auf Besserung? Das war ein Luxus, der jenseits seines Budgets lag. Wenigstens hatte er weder Frau noch Kinder, die unter seiner knappen Finanzlage leiden hätten müssen.
Herr G. war stets ein Mann der Tat gewesen. Ein idealistischer Mann. Sicher, nicht ohne Schwächen, aber wer ist das schon. Die Demokratie in Deutschland, das war für ihn immer eine große Errungenschaft der Geschichte gewesen."Toll, so ein Rechtsstaat. Jeder sollte einen haben." sagte er immer, wenn er auf seinem alten Röhrenfernseher Berichte über ferne Länder sah und ihm dann einfiel, wie gut es ihm eigentlich ging.
Doch mit um so größerer Sorge betrachtete er es, als ein Regierungsmitglied immer wieder durch Äußerungen auffiel, die nicht so Recht zu Herrn G.'s Vorstellungen von einem Rechtsstaat passen wollten. Die Bundeswehr gegen die eigenen Bürger einsetzen? Heimliche Hausdurchsuchungen? Wegfall der Unschuldsvermutung!? Herrn G.'s Stimmung wandelte sich mit jedem neuen Vorstoß des betreffenden Regierungsmitglieds mehr und mehr von Sorge zu... Zorn.
"Was denkt der sich?!"" begann Herr G. sich zu fragen. "Dass er das einfach so machen kann, und ihn keiner stoppt?" In der Stadtbibliothek surfte Herr G. gelegentlich im Internet, und die Kommentare, die man dort lesen konnte, beruhigten ihn etwas: Er sah es offenbar nicht als Einziger so. Witze wurden über das Regierungsmitglied gemacht, von "Stasi 2.0" war die Rede. Auch waren viele aufgeregt und machten sich in wütenden Pamphleten Luft.
Doch das betreffende Regierungsmitglied focht das nicht an. Vorschlag um Vorschlag zur Aushöhlung der Grundrechte folgte. Herr G. beschloss, sich im Detail zu informieren, welche Grundrechte das Regierungsmitglied genau angriff. Im Internet lud er sich die aktuelle Version des "Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland" herunter und las sich die ersten zwanzig Artikel durch, die schlicht mit "Die Grundrechte" überschrieben waren.
Bei der Lektüre fiel sein Blick schließlich auch auf Artikel 20, Absatz 4. Das las sich sehr pathetisch, fand Herr G. Und übertrieben fand er eine solche Reaktion, wie sie dort nahegelegt wurde, ja sowieso.
Monate vergingen, der Winter nahte, und Herr G. wurde, wie üblich um diese Jahreszeit, etwas melancholisch. Die Vorschläge des betreffenden Regierungsmitgliedes waren von der Regierung angenommen worden. Herr G. blieb darüber zornig, aber er resignierte auch. Was konnte ein Einzelner schon tun?
Irgendwann um die Vorweihnachtszeit geschah es plötzlich. Herr G., wie jedes Jahr um diese Zeit unglücklich, weil er dann besonders merkte, wie wenig er von allem hatte, sah abends eine Dokumentation über das zwanzigste Jahrhundert. Wie unglaublich blutig es angefangen hatte, wie mit ein paar Schüssen in Sarajewo das bis dato grauenhafteste Morden in der Geschichte unserer Spezies begonnen hatte. Wie es weiter ging, als dieser erste Krieg entschieden war und in Deutschland tatsächlich, endlich, ein demokratischer Rechtsstaat entstehen konnte.
Als die Dokumentation dann unvermeidlich durch die Geschichte voranschritt und ein allseits bekannter Wahnsinniger in ihren Mittelpunkt rückte, fragte er sich, zum wer-weiß-wievielten-Male: "Verdammt, warum haben die damals nicht rechtzeitig die Notbremse gezogen und das Arschloch einfach erschossen?" Dann kam ihm ein Gedanke, den er aber sofort wieder verwarf: Das betreffende Regierungsmitglied - tat es nicht im Grunde das Gleiche wie der Wahnsinnige aus der Geschichte in seinen ersten Jahren an der Macht?
Nein, das war kein passender Vergleich, fand Herr G. Das betreffende Regierungsmitglied war lange als Teil der deutschen Republik und ihrer Politikerklasse bekannt und würde, da war sich Herr G. ganz sicher, niemals bewusst anstreben, die Republik zu beseitigen.
Aber dann, abends, die Dokumentation im Fernseher ratterte gerade zu den üblichen Bildern die Verbrechen eines früheren Regimes herunter, da fragte sich Herr G.: "Macht es einen Unterschied, warum jemand etwas tut? Das Ende ist doch das selbe." Je mehr er darüber nachdachte, desto zorniger wurde er. Und irgendwann, die Dokumentation war bereits zu Ende und hatte einer Talkrunde mit Frau C. und ihren politischen Gästen Platz gemacht, die Herrn G. durch die Blume einzureden versuchten, dass er ein nutzloser Schmarotzer sei, da war es ihm plötzlich völlig klar:
Jemand musste etwas unternehmen. Jemand musste die Republik verteidigen. Ein Opfer bringen. Die Bedrohung beseitigen, bevor es zu spät war.
Der Tod von Herrn S. von der Hand eines verwirrten Einzeltäters, der bis dahin völlig unauffällig gewesen war, fand in den Medien naturgemäß große Beachtung. Der Mörder hatte sich unmittelbar nach seiner nicht ungeschickt geplanten Tat, die auf einer Pressekonferenz stattfand, der Polizei gestellt und vor noch laufenden Kameras mit ruhiger Stimme erklärt, dass er diese Tat zum Schutze von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit begangen habe und dass dies wohl keiner weiteren Erläuterung bedürfe.
Dem letzten Halbsatz widersprach niemand.
Herr G. verbrachte den Rest seines Lebens im Gefängnis - aber er pflegte zu sagen, dass Opfer manchmal gebracht werden müssten, und besser sei ein Mann eingesperrt als Millionen unterdrückt.
Um Herrn S. trauerten sehr viele Menschen, und viele auch aufrichtig, denn er war kein schlechter Mensch gewesen. Eine Verwandte sagte einige Jahre später einem Biographen: "Und ich habe ihn damals noch gewarnt. Aber er wollte ja nicht hören, meinte nur, dann müssten halt die Sicherheitsmaßnahmen verschärft werden."
Tyrannische Umstände
Manchmal ist eine Geschichte besser zum Übermitteln von Meinungen geeignet als ein deutliche Erklärung. Diese Ansicht vertrete nicht nur ich hin und wieder, sondern auch andere, die sich mit unzweifelhaft noch wichtigeren Fragen beschäftigen.
Für die N
Weblog: Ingo Heinscher - Blog Aufgenommen: Apr 29, 07:20
Manchmal ist eine Geschichte besser zum Übermitteln von Meinungen geeignet als ein deutliche Erklärung. Diese Ansicht vertrete nicht nur ich hin und wieder, sondern auch andere, die sich mit unzweifelhaft noch wichtigeren Fragen beschäftigen. Für die N
Aufgenommen: Apr 29, 07:20